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Der Duft der Freiheit: Streifzug durch Hanoi
Zwischen Kommunismus und Konsum, in Vietnam herrscht Aufbruchsstimmung. Ein Streifzug durch die Hauptstadt Hanoi und die Erkenntnis, dass Amerika doch noch Vietnam erobert und die Vespa längst den Panzer abgelöst hat. Von Susanne Rakowitz.

Foto © APARote Fahne, gelber Stern: Noch ist die Partei im Alltagsbild präsent, doch die Fassade bröckelt

Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ein Suppenrezept für eine vietnamesische Pho kriegen Sie von mir keines, das Durchkosten müssen Sie schon selbst übernehmen - und das am besten in der Hauptstadt selbst: Hanoi, die Stadt, mit der Einsäulenpagode, dem Literaturtempel und der quirligen Altstadt. Im Reiseführer liest man dann gerne: "Stadt der Gegensätze", vergessen Sie diesen romantischen Quatsch, die Realität ist um einiges spannender. Im Land von Ho Chi Minh brechen Gräben auf, die das Farbspektrum im Kaleidoskop des Landes nachhaltig verändern.


Christian Oster Foto © Susanne Rakowitz

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Wir tauschen den Reiseführer ein gegen einen Mann mit dem richtigen Gespür für Veränderungen: Christian Oster, Journalist aus Freiburg, seit vielen Jahren in Vietnam verheiratet. Er kennt Hanoi wie seine Westentasche, sein Kundenstock ist prominent: Von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel bis hin zur Schriftstellerin Juli Zeh. Und wir wissen relativ schnell warum: Wir steuern direkt die Altstadt an, denn wer den Puls einer Stadt messen will, muss nah genug ans Herz heran: Eng, laut, überbordend, dampfende Garküchen, Gemüsemärkte, dazwischen Kinder und Tiere scheinbar ohne Familienanschluss, über allem schwebt ein Klangteppich, dessen Symphonie irgendwo angesiedelt ist zwischen handfester Auseinandersetzung und hysterischem Lachen.

Konfuzius sagt ?

Kaum zu glauben, dass dieses Chaos einem streng hierarchischen Ordnungsprinzip unterliegt. Erdacht wurde das engmaschige Netz aus Morallehre und Verhaltenskodex von einem, den das Suchmaschinen-Universum ob seiner Zitate gerne als kleinen Säulenheiligen hervorstreicht: Konfuzius. Im realen Leben heißt das seit Jahrhunderten, so Oster, dass man sich fügt, im öffentlichen Leben und innerhalb der Familie.

Wir sitzen strategisch günstig in einem kleinen Kaffeeshop auf Kinder-Plastiksesseln. Die Knie angezogen wie kleine Pfadfinder, schlürfen wir Eiskaffee, unsere Blicke direkt auf ein Bezirksbüro der Kommunisten gerichtet: Rote Fahne, gelber Stern, Ho Chi Minh und gähnende Leere. Der Bedarf an brüderlichem Polit-Beistand ist in dieser Stadt offenbar hinreichend gedeckt. Dabei hat die strenge Ordnung des Konfuzius für die seit Jahrzehnten alleinregierenden Kommunisten eine passable Basis geschaffen: alle streng auf Linie, kein Aufmucken, kein Aufbegehren. Doch die Partei hat ein gravierendes Problem und das spielt sich direkt vor uns ab: Unsere Gastgeberin verkauft im Minutentakt Kilo um Kilo Zibetkatzenkaffee - der angeblich teuerste Kaffee der Welt - an Touristen (die Zibetkatze frisst Kaffeebohnen, es geht den Weg der Natur, diese Bohnen werden geröstet, wundern sie sich nicht). Der Kaffee ist erstaunlich günstig. Würde man die Menge des Vorrats der Hausherrin auf Zibetkatzen umlegen, rechnet Oster grinsend vor, hätte die Welt ein echtes Zibetkatzenproblem. Fakt ist: Die Erstversorgung Konsum heilt auch hier alle Wunden, wer braucht da noch die Partei? Und wer nicht konsumiert, stellt Waren für den Konsum her. Business wird hier zu jeder Tageszeit gemacht: An jeder Ecke, in jedem Hinterhof. Knapp 40 Jahre nach Ende des Vietnam-Krieges sind es die Parteigenossen selbst, die es mit Gegnern zu tun haben, die schwer fassbar und auch mit keiner Armee der Welt aufzuhalten sind: gesellschaftliche Freiheit, Individualisierung, Konsum.

Vespa statt Panzer

Nicht einmal mehr der Krieg taugt zum Kitt der Gesellschaft, schon gar nicht zwischen den Generationen: Während US-Kriegsgerät, einst Sinnbild des Kriegstriumphs, im Vorgarten des Militärmuseums vor sich hin rostet, glüht eine Armada an Jugendlichen mit ihren Vespas durch die Stadt. Smartphones und westliche Kleidung sind Standard, ein eigenes Moped ist das Maß aller Dinge. Und obwohl ein Großteil der Original-Vespas in Vietnam produziert wird, darf es im besten Fall nur ein fahrbarer Untersatz "Made in Italy" sein, beschreibt Oster den neuesten Trend. Wozu also noch rostige Panzer? Dann schon lieber eine Offensive von Manchester United, da kann die Partei ihre Parolen noch so laut aus vollen Rohren durch die Lautsprecher an den Häuserecken feuern, wenn europäische Fußballklubs im TV spielen, hat der Staatsfunk Pause.

Was eint dieses Land eigentlich? Möglicherweise die allseits präsente Ahnenverehrung: Beinahe jede Familie besitzt einen Hausaltar, Opfergaben sollen die Vorfahren bei Laune halten. Wer allerdings keine männlichen Nachkommen hat, steht vor einem Problem: Traditionell darf nur ein Mann die Rituale durchführen. Doch auch hier hat die Moderne Einzug gehalten. Christian Oster führt uns zum Eingang eines traditionellen Röhrenhauses, in der Front nur wenige Meter breit, aber bis zu 60 Meter tief. Es ist ein eigenes Universum, in das wir eintauchen: Eine Familie, drei Generationen, nur Frauen. Gemeinsam betreiben sie erfolgreich ein Restaurant, ohne eigenen Hausaltar. Dafür, so erzählt Oster, packt die illustre Damenrunde – befreit von den Pflichten des Opferns – jedes Jahr für mehrere Wochen ihre Koffer, macht den Laden dicht und verabschiedet sich nach Hawaii – auch ohne die Gunst der Ahnen lässt es sich offenbar gut leben. Und von irgendwo ganz weit weg kann man Konfuzius doch noch versöhnlich schnattern hören: "Die Freude ist überall. Es gilt nur, sie zu entdecken."