Die halbe Kanzlerin

DER SPIEGEL 48/2011

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Eine Zwischenbilanz

Es geht ihr gut, es geht ihr sehr gut. Der Euro ist weit weg, der schwierige Horst Seehofer auch, Angela Merkel verbringt Zeit mit einem Mann, den sie wirklich mag.

Er ist deutscher Touristenführer in Hanoi, er zeigt ihr den Literaturtempel, und er hat eine sanfte, milde Art, ihr sein Wissen zu vermitteln. Sie stehen unter einem Torbogen, er zeigt ihr eine alte Medaille, in die Kalendertierzeichen geprägt sind. Merkel sagt mit dem freudigen Stolz der Wissenden, "wir sind ja im Jahr des Hasen".

Eine Bundeskanzlerin will natürlich zeigen, dass sie auch etwas weiß. Sie weiß das mit dem Hasen spätestens seit der Bundestagsdebatte zum Euro anderthalb Wochen zuvor, als ihr möglicher Herausforderer Peer Steinbrück, SPD, seine Rede mit dem Kalauer beendet hat, die Regierung verhalte sich entsprechend dem chinesischen Kalender, also hasenfüßig.

"In China ist das Jahr des Hasen", sagt der Touristenführer, "in Vietnam ist das Jahr der Katze."

"Ah, der Katze", sagt Merkel.

Hanoi ist die Hauptstadt von Vietnam, aber die Bundeskanzlerin bleibt gutgelaunt. Der Touristenführer hat das nachsichtig gesagt, nicht belehrend. Die beiden gehen weiter, machen halt vor riesigen steinernen Schildkröten, die steinerne Tafeln tragen.

Es ist heiß, alle schwitzen, und die vietnamesischen Begleiter drängen Merkel, Schluss zu machen, es kommen noch politische Termine. Aber Merkel will nicht, sie will weiter mit diesem sanften, gebildeten Mann durch den Literaturtempel ziehen, und das setzt sie auch durch.

Es geht nicht um Eros, überhaupt nicht, es geht um Wohlfühlen. Merkel hat sich mit diesem Mann und an diesem Ort sehr wohl gefühlt. Es war die einzige Gelegenheit, bei der ich dabei war, in der die Bundeskanzlerin über einen längeren Zeitraum einer Stimmung folgte, einem emotionalen Gemütszustand, und dabei nicht auf ihre Pflichten achtete.